"Pantherzeit" von Marica Bodrozic
Pantherzeit: Vom Innenmaß der Dinge
"Seelenzeit ist Pantherzeit." Der Satz aus dem neuen, im Frühling dieses Jahres erscheinenden Buches von Marica Bodrozic hat mich tief berührt. Das Essay "Pantherzeit: Vom Innenmaß der Dinge" erzählt von dem ersten Lockdown, den Anfängen der Corona-Zeit.
Pantherzeit: Vom Innenmaß der Dinge
Wenn ich den Worten der Schauspielerin und Hörfunksprecherin Sonja Beißwenger lausche, den Worten, die Marica Bodrozic im letzten Jahr in ihrem Essay schrieb, das bisweilen das Genre des Tagebuchs berührt, entspannt sich mein Atem und sinkt in die Tiefe. Meine Seele geht in Resonanz, folgt der Melodie, die aus der Isolation heraus in die Isolation hineinschwingt. Die poetische Sprache, die subtile Beobachtungsgabe und das feine Gespür der in Kroatien geborenen und in Berlin lebenden Autorin schafft eine Nähe, nach der sich die Menschheit in diesen Zeiten besonders sehnt.
Rilkes "Panther" als Ausgangspunkt
Im Frühling 2020, der Zeit des ersten Lockdowns, begibt sich Marica Bodrozic jeden Abend auf ihren Balkon, um gemeinsam mit ihren Nachbar*innen Rainer Maria Rilkes Gedicht "Der Panther" zu rezitieren. Für Marica Bodrozic spiegelt das Gedicht etwas von dem Zustand wider, den die Menschen derzeit weltweit immer wieder erleben: die Gefangenschaft in den eigenen vier Wänden und das Schauen auf eine Welt, von der wir meinten, dass sie uns gehöre. Das allabendliche Ritual strukturiert ihren Tag, ihre Gedanken und Gefühle und gibt den Blick frei für eine tiefe Innenschau.
Der Panther
Sein Blick ist vom Vorübergehn der Stäbe
so müd geworden, daß er nichts mehr hält.
Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe
und hinter tausend Stäben keine Welt.
Der weiche Gang geschmeidig starker Schritte,
der sich im allerkleinsten Kreise dreht,
ist wie ein Tanz von Kraft um eine Mitte,
in der betäubt ein großer Wille steht.
Nur manchmal schiebt der Vorhang der Pupille
sich lautlos auf –. Dann geht ein Bild hinein,
geht durch der Glieder angespannte Stille –
und hört im Herzen auf zu sein.
Rainer Maria Rilke, im Jardin de Plantes, Paris 1902/03
Das Mysterium menschlicher Existenz
Marica Bodrozic begibt sich auf eine Reise durch seelische Landschaften, durch Schmerz und Freude, Einsamkeit und Nähe, Liebe und Mystik. Sie geht den Weg der Suchenden, Umherreisenden, der Philosophin und Mystikerin. Ihre lyrisch durchsetzte Prosa, ihr poetischer Bilderreichtum dringt tief in das Sichtbare ein, öffnet den Vorhang der gegebenen Gegenwart zum Unsichtbaren und berührt das Mysterium menschlichen Seins. Die Autorin sucht und findet das Verbindende, führt uns vor Augen, wie das zutiefst Persönliche mit der ganzen Welt zusammenhängt.
Hoffnung auf eines Denken
Dabei lässt Marica Bodrozic das Politische nicht außer Acht. Sie plädiert für ein umfassend neues Denken, das unserer Zukunft neu Hoffnung gibt – gemäß den Worten des US-amerikanischen Architekten und Philosophen Richard Buckminster Fuller, die sie ihrem Buch voranstellt: "Man verändert die Dinge nicht, indem man gegen die bestehende Wirklichkeit ankämpft. Um etwas zu ändern, muss man ein neues Muster erschaffen, dass das Bestehende hinfällig macht."
Marica Bodrozic ist davon überzeugt, dass uns die Pandemie die Möglichkeit einer neuen Welt bietet, einer Zukunft, die nichts mehr mit der alten Ellenbogenmentalität und Gleichgültigkeit gemein hat. Sie appelliert an unsere Achtsamkeit für alle Veränderungen und seien sie auch noch so klein, um daraus Erkenntnisse zu gewinnen, die die Zukunft aller Lebewesen beschützen und bewahren. Das Gefühl der Verbundenheit ist uns abhandengekommen, so die Autorin, deshalb fügen wir uns selbst und der Natur so großes Leid zu. Sie richtet ihren scharfen Blick auf die Raffinesse der großen Unternehmen, die in der Krise mit außerordentlich viel Geld unterstützt werden, den auswuchernden Kapitalismus, die Ungleichheit in der Welt. Doch sie glaubt auch an die Lernfähigkeit des Menschen, die sich immer wieder in transformativen Zeiten gezeigt hat, in denen sich weltweit das Bewusstsein der Menschen veränderte und das Denken auf einen Neubeginn ausrichtete.
Neben den von Wissenschaft, Literatur und Mystik durchzogenen Gedanken lässt uns Maria Bodrožić auch an ihrer persönlichen Geschichte teilhaben. Wir lernen ihren Mann und ihre kleine Tochter kennen, erfahren von ihrer schmerzenden Hand, die sich wie ein roter Faden durch das gesamte Essay zieht und uns in ihre Kindheit und Jugend führt.
Fazit
Das erzählerische Essay "Pantherzeit" von Marica Bodrozic enthüllt sich in diesen Zeiten als ein großes Geschenk, ein tröstendes Gebet, das mit uns die Demut, Dankbarkeit und Freude über das Leben und unser Menschsein feiert – gemäß ihren Worten: "Das richtige Buch zum richtigen Zeitpunkt ist wie ein Fest“.
Sonja Beißwenger liest "Pantherzeit"
NDR Kultur präsentiert auf seiner Webseite in neun Folgen Auszüge aus dem bisher unveröffentlichten Buch von Marica Bodrozic "Pantherzeit: Vom Innenmaß der Dinge". Die Folgen stehen noch bis Anfang Februar 2021 im Internet zur Verfügung. Das gebundene Buch von Marica Bodrozic "Pantherzeit: Vom Innenmaß der Dinge" wird voraussichtlich am 23. Februar 2021 erscheinen und für 22 € im Buchhandel vor Ort oder auch bei der sozialen Online-Buchandlung buch7.de erhältlich sein.
Das Buch
Pantherzeit.
Vom Innenmaß der Dinge
Marica Bodrozic
Otto Müller Verlagsgesellschaft
23. Februar 2021
Die Autorin Marica Bodrozic
1973 im Hinterland von Split in Dalmatien geboren. 1983 siedelte sie nach Hessen über. Sie schreibt Gedichte, Romane, Erzählungen, Essays, die sich stets im Resonanzraum von Ethik und Ästhetik bewegen und aus einem geistig ausgerichteten Sprachbewusstsein schöpfen. Seit ihrem Debüt "Tito ist tot" (2002) sind zahlreiche Bücher erschienen, die sich mit Gedächtnis und Erinnerung, Philosophie und Mystik auseinandersetzen. Dafür wurde sie vielfach ausgezeichnet, u. a. mit dem European Prize for Literature (2013), dem Literaturpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung (2015) und zuletzt (2020) mit dem Walter-Hasenclever-Literaturpreis für ihr Gesamtwerk. Marica Bodrozic lebt mit ihrer Familie in Berlin. Sie ist Mitglied des Deutschen PEN-Zentrums. (Quelle: Hugendubel Digital GmbH & Co. KG)
Ein Artikel von
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Hegede 6
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