Auslaufmodell Body Mass Index
Die Vermessung unserer Körper
Naturwissenschaftliches Denken beruht darauf, die Welt zu vermessen, zu wiegen, jedes noch so kleine "Ding" exakt in Einheiten beschreiben zu können. Dieses Denken bildet nach wie vor die Basis für medizinisches Handeln. Abweichungen sind lästig und werden gerne übersehen, irgendwie eingepreist.
Ist das hilfreich? Manchmal auf jeden Fall – unsere schulmedizinische Versorgung ist weltweit herausragend gut, wir können auf Ärzt:innen aller Art mit hoher Kompetenz zählen, die uns behandeln, wenn wir ernsthaft erkrankt sind. Gleichzeitig entsteht bei vielen Menschen das Gefühl, dass Zuhören und gemeinsam über einen Heilungsplan zu sprechen, nicht hoch im Kurs steht - wird auch (bisher) nicht gut genug bezahlt. Manchmal wird auch da gemessen, wo es gar nicht heilsam ist...denn ja, Vermessungen haben auch immer mit Normierung zu tun. So entstehen neben der Verengung des Blickes insgesamt auch sexistische, rassistische und menschenverachtende Haltungen in der Medizin und werden in die Gesellschaft getragen.
Der Body-Mass-Index: Ein Irrtum
Der BMI ist ein wunderbares Beispiel für medizingeschichtliche Irrtümer – viele Jahre galt der BMI als hilfreiches Instrument bei der Beurteilung, ob jemand zu dünn (selten, aber gefährlich) oder zu dick (häufig und weniger schlimm als angenommen) ist.
Der BMI berechnet sich aus dem Quotienten aus Körpergewicht und Körpergröße zum Quadrat (kg/m2). Er ist die Beurteilungsgrundlage für die Gewichtsklassifikation. Ein BMI zwischen 18,5 und 24,9 ist „normal, alles andere sind Abweichungen.
Nun stellt sich heraus, dass diese Werte falsch sind – es gibt nach BMI-Tabelle übergewichtige Menschen, die nicht nur gesund und munter sind, sondern die auch bei chronischen Erkrankungen insgesamt resilienter sind als solche mit einem Top-BMI; das gilt vor allem in höherem Alter. Menschen sind, wie alle Wesen, Gesamtkunstwerke – ein Parameter herauszupicken und als Maßstab für Gesundheit zu nehmen ist nicht nur verrückt falsch und überholt, sondern unheilsam.
In der medizinischen Forschung wird aktuell dringend davon abgeraten, den BMI oder gar den Leibesumfang als Parameter für eine Einteilung in „krank“ oder „gesund“ zu wählen – alles viel zu ungenau, teilweise durch genetische Dispositionen bestimmt und damit nicht hilfreich.
Health at every size: HAES
Ziemlich neu ist deshalb ein Ansatz, der nicht das Körpergewicht als Grundlage nimmt, sondern sich um das allgemeine Wohlbefinden der Patient:innen kümmert – auch, wenn diese „zu dick“ erscheinen und einen BMI haben, der ihnen eine Adipositas andiagnostiziert.
Es geht darum, einen möglichst stressfreien Umgang mit der eigenen Ernährung zu finden, weniger mit Verboten und Kalorienzählen zu arbeiten als mit bewussterem Essverhalten. Und beispielsweise zu schauen, welche Bewegungsformen Spaß machen und wie es gelingt, diese aus dem Kopf in die Beine zu bekommen, ist dabei ebenfalls wichtig.
Wenn Risikofaktoren wie Bluthochdruck o.ä. eine Rolle spielen, gilt: Nur eine individuelle Begleitung hilft wirklich weiter und führt zu echtem salutogenetischen, die Gesundheit förderndem Verhalten. Gewichtsreduktion allein macht null Sinn und nicht gesünder.
„Ein gesundes Leben und ein hohes Körpergewicht schließen einander nicht aus.“ sagt der Soziologe und „Fettforscher“ Friedrich Schorb
Übergewicht nein danke? Diskriminierung beenden!
Ein Riesenthema ist nach wie vor die Diskriminierung von Menschen mit sog. Übergewicht, die in alle Lebensbereiche wirkt. Dicke sind undiszipliniert, faul, willensschwach, hässlich sowieso...Die HAES-Bewegung setzt dem auch auf medizinischer Ebene endlich etwas entgegen, von dem wir nur hoffen können, dass es bald in allen Köpfen ankommt. Warum das nicht schneller gehen kann? Weil mit Abnehm-Produkten nicht Millionen oder Milliarden, sondern Billionen verdient werden – und es nicht im Interesse der Industrie sein kann, wenn Menschen nicht mehr abnehmen wollen, weil sie erkennen, wie verrückt das ist.
Dazu sagt die Medizinerin Ingrid Mühlhauser: „Es ist gut, wenn sich Gruppen gegen die medizinische Normierung wehren“.
Ein Lichtblick in dieser Diskussion ist die noch recht junge Bewegung #bodypositivity – hier geht es darum, die normierten, fest in unseren Köpfen verankerten Schönheitsideale zu überprüfen und eine positive Haltung zum eigenen Körper, so wie er ist, zu entwickeln: groß, klein, dick, dünn, schwarz, weiß, mit oder ohne Handicap.
Nur zu!!!!