Heilung finden, Frieden schaffen
Die heilende Kraft des Vergebens
Vergeben ist gar nicht so einfach. Nicht nur der Akt des Vergebens selbst kann uns schwerfallen. Auch die Voraussetzungen für eine Versöhnung und ihre Wirkungen können problematisch sein - vor allem, wenn wir es nicht aus reiner Liebe oder Großmut tun. Doch wenn wir nicht vergeben, werden wir handlungsunfähig, leiden oftmals körperlich und emotional, fügen unserem Herzen noch mehr Schmerz zu als es ohnehin schon erlitten hat.
Die heilende Kraft des Vergebens
Ob in der Theologie, Philosophie, Pädagogik, Psychologie oder Soziologie – die Versöhnung und ihre heilsame Kraft findet in vielen wissenschaftlichen Disziplinen ihre Erwähnung. Die Theologin und Philosophin Hannah Arendt verstand die Vergebung als notwendige Ergänzung zum Handeln. Könnten wir uns nicht gegenseitig verzeihen, so die Politologin, würden uns die Konsequenzen jeder Tat bis ans Lebensende verfolgen, „als seien wir der Zauberlehrling, der das erlösende Wort: Besen, Besen, sei’s gewesen, nicht findet“ (Hannah Arendt, Vita activa, Piper Verlag, München, 8. Auflage 2010).
Mir scheint die Zeit reif, um zu erforschen, ob wir Groll, Rachegefühle oder Missgunst gegen uns selbst oder einen anderen Menschen in unserem Herzen hegen, um diese heillosen Gefühle und die damit einhergehenden Gedanken sprichwörtlich mit viel Schwung hinauszufegen. Durchbrechen wir den Kreislauf der Vergeltung, auch wenn wir die Tat, die uns verletzt hat, nicht ungeschehen machen können! Schaffen wir inneren und äußeren Frieden!
Verzeihen ist nicht gleichzusetzen mit Vergessen, denn das, was geschehen ist, können wir nicht rückgängig machen. Mit der Vergebung ist nicht alles wieder gut. Wir verdrängen auch nicht unsere Gefühle, wenn wir verzeihen. Verzeihen heißt vielmehr, das Geschehene zu akzeptieren, die Gefühle bewusst zu durchleben, ohne sie gegen uns oder andere zu richten, um sie schließlich loszulassen, sodass weder Gegenwart noch Zukunft von der Vergangenheit vergiftet werden. Verzeihen heißt, uns selbst oder der Person, die uns verletzt hat, wieder vorbehaltlos begegnen zu können, ohne emotional an das Vergangene gebunden zu sein. Wir vergeben uns beziehungsweise der Person, nicht aber die Tat.
Vergebung lindert seelischen Schmerz
Im 20. Jahrhundert haben Sozialwissenschaftler erstmals begonnen, sich mit dem Thema Verzeihen zu beschäftigen und die heilsame emotionale und körperliche Wirkung der Versöhnung empirisch nachgewiesen. Menschen, die leicht vergeben können, zeigen mehr Freude im Alltag, sind optimistischer und glücklicher, leiden weniger unter Grübeleien und Depressionen und sind weniger ängstlich.
Der Mensch, ein verzeihendes Wesen
2017 führten Psychologen in Yale, der University of Oxford, dem University College London und der International School for Advanced Studies (SISSA) Studien durch, die veranschaulichen, dass der Mensch sogar darauf angelegt ist zu verzeihen, um soziale Beziehungen zu erhalten.
Gründe für eine angeborene Fähigkeit des Vergebens liefern auch verschiedene Studien der Neurologie. Allerdings lässt ein sich ständig wandelnder Hirnstoffwechsel vermuten, dass sich diese Fähigkeit im Laufe eines Lebens verändern kann, sodass der Mensch das Verzeihen wieder verlernen beziehungsweise neu erlernen kann.
Therapiemodelle zur Vergebung
Modelle einer Therapie der Vergebung wie die von Dr. Robert D. Enright bieten konkrete Anleitungen für einen heilsamen Prozess der Vergebung. Dr. Robert D. Enright, praktizierender Psychologe und Professor für Psychologie an der University of Wisconsin, Madison gründete das International Forgiveness Institute, eine gemeinnützige Organisation, die keiner religiösen oder politischen Institution angeschlossen ist. Seit 2002 beschäftigt sich Dr. Enright fast ausschließlich mit der Entwicklung von Lehrplänen zur Vergebenspraxis für Kinder aus kriegsgeschädigten, verarmten oder unterdrückten Gebieten der Erde.
Das Stufenmodell von Dr. Robert D. Enright
Schrittweise soll Enrights Therapie dazu verhelfen, Gefühle wie Zorn und Hass loszulassen, um den damit verbundenen seelischen Schmerz und Stress zu lindern. Das von Robert Enright entwickelte Therapiemodell besteht aus 20 Etappen, die sich in vier Phasen aufteilen lassen:
1. bewusstes Durchleben des Schmerzes
2. der Entschluss zu vergeben
3. Verständnis für den Täter/die Täterin
4. akzeptieren des Unrechts, nicht entschuldigen, und der Verzicht auf Rache
Vergebung ist gesund
2019 wies ein Forscherteam um Dr. Enright und dem Südkoreaner Yu-Rim Lee im Rahmen einer Meta-Analyse von insgesamt rund 130 Studien mit knapp 60.000 Probanden einen Zusammenhang zwischen körperlicher Gesundheit und der Fähigkeit des Verzeihens nach. Dabei wurden unter anderem Variablen wie Autoimmunerkrankungen, Bluthochdruck, Cholesterin, Schmerzen und Stresshormone berücksichtigt. Das Ergebnis zeigt unabhängig von Alter, Geschlecht, Herkunft, Bildungsstand oder Beschäftigungsstatus, dass nachtragende Menschen mit gesundheitlichen Folgen zu rechnen haben, während diejenigen, die leicht vergeben können, gesünder leben. Außerdem trägt eine gute Gesundheit dazu bei, mehr Energie für das Verzeihen zur Verfügung zu haben.
Vergebenspraxis im Buddhismus
Die heilende Kraft der Vergebung ist auch ein wichtiger Bestandteil religiöser und spiritueller Traditionen wie dem Buddhismus, Christentum, Hinduismus oder Sufismus. Laut Buddha können wir unser Leiden nur lindern, wenn wir bereit sind, uns selbst und anderen zu verzeihen. Wenn wir den Hass überwinden, der im Buddhismus neben der Gier und der Verblendung eine der drei Grundwurzeln menschlichen Leidens bildet, entwickeln wir mehr Gelassenheit und öffnen unser Herz für das Mitgefühl und die Liebe.
Im Buddhismus gibt es viele Meditationsübungen für den achtsamen Umgang mit schmerzhaften Gefühlen, darunter auch Praktiken zur Vergebung. Auf dem YouTube-Kanal des Buddha-Haus Meditations- und Studienzentrum e. V. in Oy-Mittelberg steht eine Meditationsanleitung zur Vergebung von der buddhistischen Nonne Ayya Khema zur Verfügung.
Im Buddha-Haus Dhamma-Rundbrief Nr. 25 wurde zudem ein wunderbarer Vortrag des buddhistischen Mönchs Banthe Nyanabodhi zur Vergebenspraxis veröffentlicht: "Praxis des Vergebens. Vortrag für den Alltag von Banthe Nyanabodhi". Dieser kann nach kostenloser Anmeldung auf der Plattform yumpu.com als PDF heruntergeladen werden.
Auch das Tibetisches Zentrum e. V. in Hamburg stellt Meditationen zur Selbstvergebung und Vergebung zum kostenlosen Download als PDF auf seiner Webseite bereit.
Der Weg des Vergebens kann sich als langer beschwerlicher Prozess mit Höhen und Tiefen gestalten, doch nur so können wir unser verletztes Herz heilen, uns wieder Neuem öffnen. Der Schmerz vergeht, die Wunde schließt sich, auch wenn Narben zurückbleiben. Mitgefühl, Großzügigkeit und Wohlwollen treten an die Stelle von Wut, Hass und Zorn. Wir beenden den heillosen Teufelskreis der Rache und Vergeltung und öffnen uns für einen wertschätzenden, achtsamen Umgang miteinander, den die Welt so dringend braucht.
Ein Artikel von
Freie Autorin, Text, Lektorat
Hegede 6
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