Dieses Sehnen in uns...

ist zutiefst politisch!

© Antje Kalbe
2. August 2025 von Antje Kalbe

Wie der dringend benötigte ökologische Schutz unseres Lebensraumes zu einer Quelle von tiefer Erkenntnis und Verortung werden kann (oder umgekehrt)

Die meisten Menschen – deutlich mehr übrigens nach einer aktuellen Studie, als die Medien propagieren (1) – aus nicht-indigenen Gesellschaften, also der Konsumgesellschaften, fühlen dieses Sehnen noch in sich, vorausgesetzt sie – wir – haben sauberes Wasser, etwas zu essen und ein Dach über den Kopf.

Es äußert sich in Momenten, in denen wir plötzlich die einzigartige Schönheit einer Pflanze oder eines Tieres bemerken, die unabhängig ist von konkreten Bezeichnungen oder Einteilungen in Nutzpflanze oder Unkraut; oder eine Stimmung in der Natur, ein besonderes Licht, Sonnenstrahlen, die nach einem Regenguss alles beleuchten und uns die Größe und das Eingebettet-sein in dieses Dasein erahnen lassen; in Begegnungen, die nichts weiter zu brauchen scheinen als sich selbst; in Augenblicken inneren Friedens in uns – Momenten, die aus der Zeit gefallen zu sein scheinen. Ein Gefühl der Verbundenheit, des All-eins-Seins oder anders: des nicht-Getrenntseins.

Die Trennung in Natur und Mensch – ein Konzept der Gegensätze

In dem Zustand des Getrennt-Seins nehmen wir sowohl unseren Lebensraum, die Erde und die Vielfalt der in der Natur lebenden Wesen als Objekte wahr, in dem wir selbst als Subjekte existieren, als auch uns selbst als voneinander getrennte Wesen „ich/ wir hier“ und „du/ ihr dort“.
Das führt zu einer unverhältnismäßigen Betonung des Individuellen im Verhältnis zum Ganzen einerseits und Entwurzelung und Verlorenheit andererseits.
Gepaart mit einem Gesellschaftssystem, das auf dem willkürlichen Bewerten und fortwährenden Konsum von Dingen – Objekten – beruht, hervorgerufen durch ein künstliches Mangelgefühl, dessen Bedürftigkeit nicht gestillt werden darf, wenn das System weiter bestehen will, ist dieses Konzept einer getrennten Sichtweise auf die Welt und unseren Platz darin Ursache der ökologischen Zerstörung der Erde.
In immer stärkeren Kreisen führte dieses Konstrukt gleichermaßen zu den heute existierenden und auf die Spitze getriebenen Auswüchsen eines vermeintlichen Anrechts auf ausgelebten Individualismus sowie – als Kehrseite dieses künstlichen Individualismus, der sich nur über äußere Dinge definiert und keinen echten Nährwert, keine Wurzeln entwickelt –, zu einem Zwang einer (Meinungs-)Gleichheit, die jedes echte eigenständige Denken und vor allem Fühlen nicht erlauben darf.

Konsum – eine Hydra mit System

Ein selbstzerstörerisches System und Verhalten, das sich allem bedient, was in irgendeiner Weise benutzt und vermarktet werden kann. Selbst ursprünglich sinnvolle Dinge wie Biolebensmittel oder Nahrungsergänzungsmittel wurden überwiegend von dieser „Maschinerie“, die wir ja selber füttern, vereinnahmt. Ein „neuer Markt“, bis in den Wahnsinn spezifiziert, wurde geschaffen, der seine eigene Art des Mangelgefühls pflegt oder wahlweise an das gute Gewissen appelliert. Wieder geht es nur um das Richtige, das Bessere, das Optimierte, das Neueste, ein weiteres „besser-als“ von weit her, aus dem Urwald, einem abgelegenen Canyon, das uns atemlos danach rennen lässt.

Die Bewegung der südmexikanischen Zapatista (2) nennt es die „Hydra“ – man schlägt einen Kopf ab und es wachsen 99 nach. Ein selbstgebautes Hamsterrad, der Grund, weshalb wir seit Jahrzehnten trotz umfassender wissenschaftlicher Erkenntnisse nicht auf eine Weise ins Tun kommen, die uns einen wirkungsvollen Weg einschlagen lässt.
So entstehen im offiziellen Rahmen vor allem Ideen zur Bewältigung der Krisen, die sich innerhalb des Systems bewegen und wiederum gut vermarkten lassen – CO2-Ausgleichsemissionen beispielsweise, die zu einer eigenen Währung geworden zu sein scheinen und nur selten tun, wofür sie da sind (3); ein Naturschutz, der nach wie vor auf der kolonialen Interpretation einer „menschenfreien“ Wildnis beruht und trotz eines internationalen Schutzes von Land- und Grundrechten (ILO169) immer mit brutalen Vertreibungen indigener Völker einhergeht (4), ein Wandel des Individualverkehrs mit E-Autos, bei denen der „Kampf“ um Rohstoffe, das Verteilen der Märkte und langjährige Bergbaukonzessionen gesichert werden müssen – und dabei soziale Ungerechtigkeiten und weitere Umweltzerstörungen als jahrhundertelange Begleiterscheinungen in den rohstoffreichen Ländern fortgeführt werden … .

Einsamkeit und Alleinsein

Diese Entwurzelung, dieses Gefühl der Trennung und das vermeintliche Überwinden über das Identifizieren mit vergänglichen äußeren Dingen führt zu einem inneren Alleinsein, welches – statt eingebettet in das Leben Tiefe und Erkenntnis zu ermöglichen –  angesichts der Komplexität des Daseins zu Einsamkeit, Orientierungslosigkeit und Überforderung wird.
Sie werden umso größer, je mehr die Diskrepanz zunimmt zwischen dem, was wir in den Waren, Konzepten und Ideologien zu finden hoffen und ihrer tatsächlichen Leere und beraubt uns unserer Fähigkeit zu fühlen, unserer Intuition und unseres Mutes, unabhängig von äußerer Bestätigung allein aus uns heraus zu sein.

Einzigartigkeit - echte Individualität

Jeder Mensch trägt einen bestimmten Zugang zu einem inneren Wissen in sich, eine bestimmte Art, Zusammenhänge wahrzunehmen, bestimmte Fähigkeiten, sie und sich auszudrücken.
Die US-amerikanische Ärztin Marlon Morgan berichtet in ihrem Buch „Traumfänger“ von ihrer tiefgreifenden Begegnung mit einem Volk der Aborigines und erzählt, dass es die Aufgabe der Gemeinschaft ist, – ohne jede Form von Wertung, aber in aller Konsequenz –, sich dabei zu unterstützen, diese individuelle Einzigartigkeit zu entdecken und zu entwickeln. Das Gemeinwohl und das Überleben der Gemeinschaft hängen von dieser Form der Individualität, der gemeinschaftlichen Vielfalt ab, genauso wie die Freude daran.

Es ist ein Individualismus, der aus dem Inneren kommt und zu einer selbstverständlichen und tief verwurzelten Gewissheit um die eigene Lebensberechtigung führt, eingebettet in das Ganze, ohne sich selbst als etwas besonderes zu empfinden. Eine Kraft, die Integrität ermöglicht und ein Aufstehen, Denken, Sprechen und Handeln, das nicht mehr notwendig eine Bestätigung durch das Außen braucht, zugleich aber eine wahrhaftige Verbundenheit mit ihm zulässt.

Schöpferischer Dialog - echtes neues Wissen

Sich dieser Einzigartigkeit bewusst zu sein ist die Voraussetzung, auf eine Weise in den Dialog zu treten, die echtes neues Wissen ermöglicht. In ihm fließen die individuellen Wissensaspekte auf eine natürliche und lebendige Weise ineinander, verbinden und verweben sich, frei von der Angst, nicht gut genug zu sein, frei von Vorbewertungen und Zielvorgaben, frei auch von Konkurrenz und geprägt von einer offenen und klaren Haltung,
Ein solch schöpferischer Dialog führt zu einem Wissen, das für jeden spürbar etwas entstehen lässt, über Bestehendes hinausgeht und allen und allem dient und alles miteinbezieht, den Moment genauso wie das Fortwährende.
Der australische Aborigine-Aktivist, Autor und Künstler Tyson Yunkaporta bezeichnet es in seinem Buch „Sandtalk“, in dem es grundlegend um die Folgen der Trennung geht, als Diversifikation – die dringende Notwendigkeit, in Prozessen diese tiefe, innere Einzigartigkeit beizubehalten, um die höchstmögliche Verschiedenheit zu garantieren. Sie ist für ihn neben Verbundenheit, Interaktion und Adaption essentiell, um ein guter Nachhaltigkeitsakteur zu werden (5).

Integrität – ein unbestechliches Herz

Andrés Manuel López Obrador, von 2018 bis 2024 mexikanischer Präsident, setzte sich 47 Jahre lang für die Menschen aus dem Volk, aus den Pueblos ein. Er betonte wie seine langjährige Mitkämpferin Claudia Sheinbaum, – die jetzige Präsidentin –, immer wieder, dass es nicht um ihn als Person geht, sondern dass er Teil einer sozialen Bewegung ist, die sich nach einem Wahlbetrug 2011 unter dem Namen Morena organisierte und heute von 85 Prozent der mexikanischen Bevölkerung unterstützt wird (6).

Ihre Kernpunkte sind eine konsequente Strafverfolgung von Korruption, Bekämpfung von Armut und Ungerechtigkeit, Transparenz aller Regierungsgeschäfte, offene Kommunikation, Souveränität ohne sich abzuschotten, medizinische Grundversorgung, Bildung als Grundrecht, …vor allem aber der Dialog mit den Menschen vor Ort. Dafür ist er kreuz und quer durchs Land gereist.

Als erin einer Dokumentation erzählt, was ihm besonders wichtig ist, nennt er Ehrlichkeit und Authentizität als klare innere Prinzipien, - um gut verankert zu sein und der Macht nicht zu verfallen.(7) Das Wichtigste aber sei, und darauf ist er besonders stolz, dass sie zu einem Mentalitätswandel, einer Revolution des Bewusstseins beigetragen habe. Die Menschen zu politisieren, ihnen durch konkretes Handeln zu zeigen, dass ihre Stimme zählt, allen voran die der Armen, und ein größeres Bewusstsein dafür zu schaffen, dass ein Leben in Würde zu leben ein Grundrecht ist, welches gemeinsam und in Respekt füreinander erreicht werden kann, ist sein Antrieb über die Jahrzehnte. (8)

Dieses gewachsene Bewusstsein ist die Grundlage für den Wandel des Landes, so López Obrador, das anders als materielle Dinge nicht rückgängig gemacht werden kann. (9)

Das ist das Sehnen in uns, -

...nach Menschlichkeit, Würde, Teilhabe, wahrgenommen werden, nach der Möglichkeit des Ausdrückens dieses einzigartigen Aspekts in uns und seiner großen Kraft, – und deshalb ist es zutiefst politisch – im einzelnen Aufrichten und gemeinsamen Gehen. Dadurch lassen wir Möglichkeiten sichtbar werden, eine andere, eine bessere Welt zu träumen und an ihrem Entstehen kontinuierlich mitzuwirken. Eine Welt, in der die Dinge zusammengedacht werden und berührt werden und in Beziehung sein die dem Konsum zugrundeliegenden Gefühle des Mangels und der Unzufriedenheit transformiert – ein im wahrsten Sinn nachhaltiger Schutz der Erde für uns alle.

(1) https://www.youtube.com/watch?v=oue6zdCxH30 „Wie politisch sind Gefühle, Maren Urner? | Sternstunde Philosophie | SRF Kultur, 17. Juni 2024, ab min 55:00“

(2) Eine überwiegend indigene Bewegung im mexikanischen Bundesstaat Chiapas, die aus größter Armut eine Selbstorganisation aufgebaut haben.

(3) https://www.deutschlandfunknova.de/beitrag/klimaausgleich-co2-kompensation-funktioniert-nur-sehr-maessig

https://www.br.de/nachrichten/deutschland-welt/co-kompensation-ueberschaetzt-und-irrefuehrend,UJEkLYO

(4) https://www.survivalinternational.de/kampagnen/kolonialer-naturschutz

(5) Tyson Yunkaporta: „Sandtalk“, 2. Auflage, 2022, Matthes &Seitz Berlin, S.103

(6) https://www.n-tv.de/politik/Die-ultrapopulaere-Linke-im-Sueden-Mexikos-Praesidentin-Claudia-Sheinbaum-bietet-Donald-Trump-die-Stirn-article25662066.html

(7) www.youtube.com/watch?v=nImLLsj8Y9E/ AMLO lanza documental autobiográfico en Twitter/ min 3:48

(8) https://www.jornada.com.mx/notas/2021/12/02/politica/el-pais-de-pie-y-en-una-revolucion-de-conciencias-amlo/

(9) https://elsoberano.mx/plumas-patrioticas/la-revolucion-de-las-conciencias-de-gramsci-a-lopez-obrador

Ein Artikel von
Antje Kalbe