Alles hat seine Zeit

Nur ich hab' keine...

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24. August 2024 von Conny Dollbaum-Paulsen

Diese Headline ist der Titel eines ganz wunderbaren Buches über Zeit vom passionierten Zeitforscher Karlheinz A. Geißler. Mir geht sie immer wieder durch den Sinn, weil das Thema der scheinbar knappen Zeit überall, wirklich überall lauert.

Warum haben wir keine Zeit?

Ganz abgesehen davon, dass es verschiedene, auch wissenschaftlich relevante Gedanken und Forschungen gibt, die nahelegen, dass Zeit, wie wir sie verstehen und empfinden, eine Erfindung unseres Geistes ist und damit ein unwirkliches Konstrukt, also abgesehen von der Fragwürdigkeit dieses Phänomens, wissen wir, was mit „keine Zeit haben“ gemeint ist.

Zu viel Arbeit?

Laut Statistischem Bundesamt verbrachten Menschen ab dem 10ten Lebensjahr 2002 im Durchschnitt 13 % ihrer Zeit mit Erwerbstätigkeit und 17% mit Freizeitaktivitäten. Selbst Essen & Körperpflege nahmen fast ebenso viel Zeit ein wie die Arbeit – und das hat sich, wie die erneute Erhebung von 2022 zeigt, sozusagen nicht geändert. Das Bild ist etwas schief, weil Kinder und Jugendliche mit einbezogen sind und ein Durchschnitt erhoben wurde. Wer sich die Mühe macht, etwas weiter runter zu scrollen sieht, dass Männer nach wie vor deutlich mehr erwerbstätig sind, während Frauen mit Kinderbetreuung und unbezahlter Care-Arbeit gut beschäftigt sind – insgesamt kommen beide Geschlechter auf knapp 60 Stunden pro Woche.

Okay, bitte kurz die Zähne zusammen beißen und auf einige Zahlen schauen:

  • 7 Tage pro Woche mit 24 Stunden Zeit machen 168 Stunden

  • davon schlafen wir 56 und

  • arbeiten 55,

  • bleiben 57 Stunden, also gut 8 Stunden am Tag für alles mögliche, natürlich auch für Mahlzeiten und alles, was dazu gehört.

Alles natürlich im Durchschnitt. Und das war 2002 nicht anders, obwohl viele spätestens seit Corona das Gefühl der „Zeitverdichtung“ und immerwährenden Zeitknappheit haben.

Das Stichwort „Corona“ spielt in Sachen Zeitempfindung eine ziemlich erkenntnisreiche Rolle. Natürlich war fast alles, was wir in den Jahren 2020 bis 2022 erlebt haben wirklich gruselig, einschränkend, krankmachend und schwierig. Aber ich erinnere mich auch gut an ein anderes Phänomen: Viele von uns hatten plötzlich Zeit. Keine Partys, kein Sport, kein Kino, keine Familienbesuche, kein Chor kein gar nix – die Homeoffice-Ära ermöglichte Arbeiten im entspannten Gewand ohne Wege, Stau und Parkplatz-Suche. Plötzlich gab es Zeit im Überfluss. Ob das immer ein Geschenk war, sei dahingestellt, in jedem Fall gab es in dieser Zeit mehr Ruhe im System. Überall.

Ich erinnere mich auch an gute Vorsätze, als die Normalität zurückgerollt kam: wir nahmen uns vor, einige Gewohnheiten beizubehalten, wollten nicht wieder zurück in die Tretmühle des ganz normalen Vor-Corona-Alltags. Das ist mal so was von gar nicht gelungen, oder?

 

Wie geht Zeit haben?

Warum nur klappte das während der Pandemie und was steht jetzt so hartnäckig im Weg, wenn wir uns nach „mehr Zeit für uns“ sehnen? Ganz entscheidend war: alle saßen zu Hause und hatten nix zu tun, es gab schlicht nullkommanix zu tun für niemanden. FOMO, Fear of Missing out, die Angst, was zu verpassen, fiel ersatzlos weg. Und das ist jetzt wieder sehr sehr anders: ALLE fahren in Urlaub (was oft Stress macht, zumindest vorher und nachher und im Stau und in der Hitze und mit den Mücken und so weiter), ALLE gehen auf Feste, ALLE machen Radtouren mit ihren E-Bikes, ALLE feiern runde Geburtstage, ALLE sind dieses und tun jenes und ALLE sind dadurch auf jeden Fall interessanter, als wenn sie nur auf dem Balkon säßen und der Spinne beim Weben ihres Netzes zuschauten – das kann dauern und jede Bewegung kann stören.

Wir laufen kollektiv wie die Verrückten – natürlich ist es an vielen Arbeitsplätzen stressiger geworden, aber wenn ich mir die Wochenpläne einiger Kinder aus meiner Umgebung anschaue, bin ich schon vom Lesen erschöpft: Musikunterricht, Sport, Chor, nochmal anderer Sport und Theaterspielen und am Wochenende Wettkämpfe und, natürlich, was Schönes machen mit der Familie. Bei Erwachsenen ist es ja nicht anders; immer muss irgendwas Tolles passieren und der Rest der Zeit gehört dem Daddeln. Tatsächlich sagen aktuelle Untersuchungen, dass es weder bei Kindern noch bei den Erwachsenen das Hängen am Display ist, das unsere Zeit frisst – die Daddelzeiten haben wir früher einfach verdöst oder vor dem Fernseher verbracht.

Weniger ist mehr...wie langweilig

Dieser so oft zitierte Halbsatz passt hier ganz gut – weniger unterwegs sein, weniger Treffen mit Freund:innen, weniger Verpflichtungen, weniger Projekte, weniger von allem...und schon fallen wunderbar entspannte Zeiten wie vom Himmel. Allerdings gibt es da eine schnell zuschnappende Falle – die heißt: „Ich hätte soooo gerne mehr Zeit für mich, damit ich dann mal die Dinge tun kann, die ich eigentlich tun will...“.

Und dann, wenn ich endlich viel mehr Zeit als vorher habe, weil ich einiges abgesagt habe, plane ich sie ohne mit der Wimper zu zucken voll mit Dingen, die ich so sehr gerne tun möchte. Und alles ist wieder genauso zeitknapp wie vorher. Der Reichtum von freien, unverplanten Zeiten ist nur zu haben, wenn wir aufhören, immer und immer irgendwas haben zu wollen, was gerade nicht da ist.

Das ist eine ebenso bittere wie klare Erkenntnis. Und manchmal habe ich das Gefühl, je ungemütlicher die Zeiten sind, desto krasser wird die Unruhe – was ja auch einleuchtet, weil wir im Stress deutlich weniger mitkriegen von, dem, was um uns herum so los ist. Wir lenken uns ab, betäuben uns bis zur Erschöpfung, damit wir nicht zu sehr verzweifeln am Zustand der Welt. Dabei könnten wir, vielleicht, auch leichter unser Leben ändern, wenn wir nicht immer „drüber“ wären. Oder?

Ein großes wichtiges P.S.

Menschen in prekäre Arbeitsverhältnisse mit zu niedrigen Stundenlöhnen, alleinerziehende Frauen, die sich und ihre Familie mit Teilzeit-Jobs mehr oder weniger gut über Wasser halten haben auch wenig Zeit. Aber nicht, weil sie sich zu viel vornehmen...sondern weil ihre Lebensverhältnisse sie dazu zwingen. Um diese Menschen geht es hier nicht, weil sie keine Wahl haben, weniger zu arbeiten.