Abschied am Telefon

Vom Windtelefon bis zur Goodbye Line - Stille Orte für Unsagbares

Erleuchtete Telefonzelle, überwuchert von Ranken, in dämmrigen Wald.
© Adobe Stock_1464299485von cavalineri generiert mit KI
30. Juni 2025 von Martina Seifert

Im japanischen Küstenort Ōtsuchi steht ein schlichtes weißes Telefonhäuschen auf einem windumtosten Hügel mit weitem Blick aufs Meer. Das sogenannte Windtelefon (japanisch: Kaze no Denwa) errichtete der japanische Künstler Itaru Sasaki im Jahr 2010 nach dem plötzlichen Tod seines Cousins.

Ein Jahr später, nach der Tsunami-Katastrophe 2011, öffnete Sasaki diesen symbolischen Ort für andere Trauernde. Seitdem suchen ihn Menschen auf, um mit jenen zu sprechen, die sie verloren haben – Angehörige, Freund:innen, Kinder. Es ist ein stiller Raum, der all das aufnimmt, was sich nicht verorten und kaum in Worte fassen lässt – Trauer, Sehnsucht, Liebe. Die Leitung ist zwar tot, aber die Worte finden ihren Weg.

Vom japanischen Hügel in die Welt

Diese poetische Idee hat sich weit über Japan hinaus verbreitet: Weltweit gibt es inzwischen über 400 Windtelefone – allein in den USA mehr als 300, weitere entstehen stetig. Auf ihrer privaten Webseite mywindphone.com listet Amy Dawson, die ihre Tochter Emily während der COVID-19-Pandemie verlor, Windtelefone auf der ganzen Welt und macht sie für andere auffindbar.

Amy Dawson schreibt dazu auf ihrer Website: „Ich wünsche dir, dass du auf deinem Weg der Trauer einem Windtelefon begegnest. Dass der Wind deine Worte weiterträgt – dorthin, wo die Liebe geblieben ist.“ (frei übersetzt aus dem Englischen, nach Amy Dawson)

Auch in Deutschland wurden bereits Windtelefone errichtet - unter anderem in Offenbach, Paderborn und Kassel. Sie stehen in Gärten der Stille oder auf Friedhöfen – zugänglich für alle. Sie funktionieren technisch nicht, doch sie tragen eine starke symbolische Bedeutung.

Der Raum dazwischen: The Goodbye Line

Ein ähnliches Prinzip verfolgt ein Kunstprojekt aus Los Angeles. Unter dem Namen The Goodbye Line haben die beiden Dokumentarfilmer:innen Adam Trunell und Alexis Wood öffentliche Telefonzellen in emotionale Resonanzräume verwandelt. Menschen können von diesen oder von ihrem privaten Telefon aus anrufen, um Abschiedsworte, Gedanken, Gefühle oder Erinnerungen aufzusprechen – an eine verstorbene Person, eine zerbrochene Beziehung, einen vergangenen Lebensabschnitt oder einen verlorenen Ort der Kindheit.

The Goodbye Line ist dabei nicht auf physische Telefonzellen beschränkt. Anders als beim Windtelefon braucht es keinen physischen Ort – nur ein Telefon und die Bereitschaft zu sprechen - und zwar kostenlos, wenn du die US-Ländervorwahl (+1) vor der Nummer 888 808 8598 wählt. Die Gespräche werden, sofern gewünscht, anonymisiert aufgezeichnet und auf Plattformen wie Instagram veröffentlicht. Was wir dort hören, reicht von Abschiedsgeflüster bis zu verzweifelten Liebeserklärungen – keine inszenierten Monologe, sondern gelebte Erfahrung.

Das Besondere an The Goodbye Line ist nicht nur die kreative Wiederbelebung eines aussterbenden Kommunikationsmittels, sondern vor allem ihre stille Ethik: Die Leitung antwortet nicht. Es gibt keinen Ratschlag, keinen Trost, keine Bewertung – nur weiten Raum. Manchmal brauchen wir keine Antworten, sondern nur einen Ort, an dem das Gesagte sein darf. Und manchmal ist das mehr, als Nicht-Trauernde den Trauernden geben können. All das kann der Beginn einer Wandlung sein.

Die Kraft des gesprochenen Wortes

Dabei haftet den Telefonen selbst etwas Symbolisches an. Die Telefonzellen wirken wie kleine Tempel mitten im öffentlichen Raum – abgeschlossene Welten, in denen Stimmen, Worte oder Laute sich mit dem Moment verweben. Manchmal klingen die Anrufe voller Nostalgie, andere sind voller Schmerz, Trotz oder Wut. Manche Anrufer:innen erinnern sich an alte Kindheitslieder, andere erzählen von den letzten gemeinsamen Momenten. So entsteht ein kollektives Echo der Trauer. Jedes Telefon spiegelt die Menschen wider, die es nutzen – und verewigt etwas, das sonst vielleicht niemals seinen Ausdruck gefunden hätte.

Der Akt des Aussprechens macht das Unfassbare ein Stück weit fassbar. Wer spricht, strukturiert sein Inneres neu. Worte schaffen Ordnung, geben Halt – auch wenn niemand antwortet. Und das Zuhören – selbst wenn es anonym geschieht – schafft Verbindung. Alle Geschichten, die geteilt werden, knüpfen ein unsichtbares Band zwischen uns und zeigen uns, dass Verlust kein Randthema ist, sondern zur Mitte unseres Menschseins gehört.

Abschied als Wandlung – auch in Beratung und Begleitung

Auch in der therapeutischen, spirituellen und sozialen Begleitung zeigt sich immer wieder, wie zentral das Thema Abschied ist – nicht nur beim Tod eines Menschen, sondern auch in Übergängen: beim Wechsel in einen neuen Lebensabschnitt, nach Trennungen oder in Zeiten der Neuorientierung. Abschied ist nicht das Ende, sondern ein erster Schritt in etwas Neues, Unbekanntes. Aber um ihn zu gehen, braucht es Mut und einen Moment des Innehaltens.

Ein Satz kann der Anfang sein

Kunstprojekte wie das Windtelefon oder The Goodbye Line zeigen, wie kraftvoll Rituale sein können – wenn sie stille Orte öffnen für das Unsagbare und Wege bahnen für Verbindung, Ausdruck und Heilung. Wir brauchen nicht immer Lösungen – manchmal genügt ein stummer Telefonhörer, ein kurzer Satz, ein stiller Moment. Und manchmal kann uns schon das Wissen, dass irgendwo jemand unsere Worte hören wird, Trost spenden.

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Freie Autorin, Text, Lektorat